Brodecks Bericht by Philippe Claudel

Brodecks Bericht by Philippe Claudel

Autor:Philippe Claudel [Claudel, Philippe]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Herausgeber: Rowohlt (com)
veröffentlicht: 2012-12-22T23:00:00+00:00


23

Am Nachmittag jenes Tages hatte ich Emélia und Poupchette auf eine Wanderung mitgenommen. Wir stiegen bis zur Lutz-Hütte hinauf, eine alte Schäferhütte, die seit zwanzig Jahren nicht mehr benutzt wird. Die Weiden ringsumher sind nach und nach mit Binsen und Hahnenfuß zugewachsen, und das Gras wurde vom Moos zurückgedrängt. Tümpel haben sich gebildet, zunächst nur einfache Pfützen, und es herrscht eine geisterhafte Stimmung an diesem Ort: der Geist einer Wiese, die noch nicht ganz zum Moor geworden ist. Schon drei Berichte habe ich darüber verfasst. Ich will diese Metamorphose verstehen und beschreiben, und daher komme ich jedes Jahr zur gleichen Jahreszeit her, um zu sehen, was sich verändert hat. Die Hütte liegt zwei Stunden Fußweg in westlicher Richtung vom Dorf. Der Pfad, der dorthin führt, ist beinahe zugewachsen, nicht wie früher, als noch jedes Jahr viele Hunderte Stiefel darüber trampelten. Wege können sterben wie Menschen. Sie werden zugeschüttet, Gras wächst darüber, bis sie schließlich ganz verschwunden sind. Nach ein paar Jahren hat man sie vergessen.

Poupchette saß auf meinen Schultern, plapperte vor sich hin und unterhielt sich mit den Wolken, als könnten die sie verstehen. Sie sagte: «Macht Platz da, zieht eure dicken Bäuche ein und lasst die Sonne am großen Himmel in Frieden!» Von der Bergluft waren Poupchettes Wangen frisch und rosig.

Ich hielt Emélias Hand. Sie ging zügig, und ihr Blick war mal zu Boden gerichtet, mal in die Ferne zum Horizont, an dem die zerklüfteten Felsvorsprünge der Prinzhorni emporragten. Aber genau konnte ich nicht sagen, wohin sie blickte. Ihre Augen waren wie Schmetterlinge, bewegliche Wunderdinge, die der Wind forttrug – bald hierhin, bald dorthin huschten sie und verweilten nirgendwo. Schweigend ging Emélia immer weiter. Wohl weil ihr die Luft knapp wurde, sang sie nicht wie sonst. Ihre Lippen waren leicht geöffnet. Ich hielt ihre Hand und spürte ihre Wärme, sie aber schien nichts zu merken und hatte vielleicht auch vergessen, wie sehr sie dieser Mann, der neben ihr ging, liebte.

Bei der Hütte angekommen, ließ ich Emélia auf der Bank an der Tür Platz nehmen, setzte Poupchette neben sie und sagte ihr, sie solle schön brav sein, während ich meine Aufzeichnungen mache. Es werde nicht lange dauern, und danach würden wir den Kartoffel-Nuss-Kuchen essen, den die alte Fédorine in ein weißes Geschirrtuch eingeschlagen und uns mitgegeben hatte.

Dann begann ich, mir Notizen zu machen. Ich fand die Vermessungspunkte im Gelände wieder, von denen ich jedes Jahr ausging, große Steine, mit denen man früher Einfriedungen und Grenzmauern markiert hatte. Nur mit Mühe jedoch konnte ich den Sandsteintrog wiederfinden, der ziemlich genau in der Mitte der Weidefläche stand. Er war in einen Felsblock gehauen, und als Kind hatte ich mir immer vorgestellt, der Trog sei ein gestrandetes Schiff, ein Schiff der Götter.

Schließlich entdeckte ich ihn. Um ihn herum war der Tümpel innerhalb eines Jahres auf unerklärliche Weise dreimal so groß geworden. Der Stein lag ganz unter Wasser. Der massive Trog glich nun nicht mehr einem Schiff – er sah aus wie ein primitiver, schwerer Sarg ohne Leichnam, und bei diesem Gedanken lief mir ein Schauer über den Rücken.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.